Cover
Titel
Die Villa in Berlin. Eine jüdische Familiengeschichte 1924–1934


Autor(en)
Feinberg, Anat
Erschienen
Göttingen 2022: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten
232 S.
Preis
€ 26,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jakob Stürmann, Leibniz-Institut für jüdische Geschichte und Kultur – Simon Dubnow

Berlin ist seit langem ein multi- und transkultureller Ort, der von ganz unterschiedlichen Migrationsbewegungen geprägt wurde und wird. Für die 1920er-Jahre beschreibt Karl Schlögel die Millionenstadt als „Ostbahnhof Europas“, die auch zehntausende Jüdinnen und Juden aus dem östlichen Europa durchquerten.1 Einige von ihnen trugen dazu bei, dass die Hauptstadt der Weimarer Republik für eine Dekade „die Metropole hebräischer Kultur“ wurde.2 Anat Feinberg, Professorin für hebräische und jüdische Literatur an der Hochschule für Jüdische Studien in Heidelberg, beschreibt dieses kurzlebige Milieu. Im Mittelpunkt ihrer Erzählung steht die Familie Grüngard, die zwischen 1924 und 1934 in Berlin wohnte und dessen Villa im bürgerlichen Bezirk Schöneberg zu einem zentralen Veranstaltungsort der zionistischen Bewegung avancierte.

Feinbergs Buch ist eine für den geschichtswissenschaftlichen Kontext unkonventionelle Publikation. Die Literaturwissenschaftlerin nutzt Stilmittel aus der Belletristik, um das Leben der Familie Grüngard im Berlin der Zwischenkriegszeit auf ansprechende Weise wiederzugeben. Das Buch ist in kurze Tagebucheinträge untergliedert, die aus der Feder eines fiktiven Erzählers stammen: David, der „Ziehsohn der Grüngards“ (S. 74), geht im Haus ein und aus. Damit wirkt er als ein literarischer Filter der Autorin. Die Wiedergabe der Geschehnisse aus seiner Perspektive ermöglicht es Feinberg, Wissenslücken, die trotz intensiver historischer Recherche geblieben sind, literarisch zu füllen und so den Leserinnen und Lesern eine ansprechende und zusammenhängende familienbiografische Erzählung zu präsentieren.

Im Zentrum der Geschichte steht die vierköpfige Familie Grüngard. Zu ihr gehören der Vater Faivel, die Mutter Braina, der Sohn Jehuda und die Tochter Ayala. Faivel und Braina stammen beide aus der Stadt Verzholova, die vor dem Ersten Weltkrieg auf dem Staatsgebiet des Russländischen Reiches lag, nur wenige Kilometer entfernt von der Grenze zu Ostpreußen.3 Ungewollt verschlägt es die Familie nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges nach Leipzig. Mit Hilfe familiärer Netzwerke gelangen sie aber sehr bald nach Stockholm. Erst 1924 ziehen sie, nun mit schwedischer Staatsbürgerschaft, in die pulsierende Hauptstadt der Weimarer Republik. Wie auch in ihren bisherigen Wohnorten sucht die Familie sogleich Anschluss an die zionistische Bewegung. In der darauffolgenden Dekade wird ihre aus 18 Zimmern bestehende Villa für die in Berlin lebenden Jüdinnen und Juden zu einem wichtigen Anlaufpunkt. Dort finden Banketts, Teeabende, zionistische Vorträge, hebräische Literaturabende und Konzerte statt. Nach nur wenigen Monaten scheint es, als ob die Familie Grüngard in Berlin verwurzelt sei. Faivel und Braina sind „bestens im Bilde über alle jüdischen Angelegenheiten in der Stadt“ (S. 44).

In äußerst liebevolle Weise zeichnet Feinberg die Berliner Jahre der Familie Grüngard nach und erweckt damit ein ganz besonderes Milieu der Weimarer Republik neu zum Leben. Die sicherlich in Teilen ausgeschmückten privaten Erzählungen werden mit historischen Fakten verflochten. Dabei stehen Aspekte wie die osteuropäisch jüdische Herkunft, die Sprachenvielfalt der jüdischen Migrationscommunity, generationelle Prägungen und das jeweils individuelle kulturelle und politische Engagement der Familienmitglieder im Vordergrund. Ausgehend von Alltagsschwierigkeiten macht Feinberg außerdem auf die politischen Herausforderungen der Zeit aufmerksam. So erfolgt der Umzug der Familie nach Berlin fast zeitgleich mit dem Aufbruch des jüdischen Dichters Chaim Nachman Bialik in das Mandatsgebiet Palästina. Die Hyperinflation des Jahres 1923, die den Grüngards beim Kauf des Hauses zugutekommt, bringt den bereits in Berlin lebenden Bialik in enorme finanzielle Schwierigkeiten. Zum Jahreswechsel 1925/26, als das kulturelle Leben in der Stadt prosperiert und Braina die Stücke das hebräischen Theaterensembles Habimah besucht, behauptet mit Oscar Wassermann ein Vorstandsmitglied der Deutschen Bank, dass der Antisemitismus im Land abnehme. Nur fünf Jahre später erringen die Nationalsozialisten bei der Reichstagswahl einen Stimmenanteil von 18 Prozent. Die Partei schätzen Jüdinnen und Juden bereits zu diesem Zeitpunkt als so gefährlich ein, dass über sie vielfach gesprochen und der Begriff „Nazi“ bei hebräischsprachigen Unterredungen verwendet wird.

Parallel zu den sich permanent wandelnden politischen Rahmenbedingungen vollzieht sich der Aufbau und die Stärkung der jüdisch-nationalen Bewegung. Im Buch gelingt es, diese Gleichzeitigkeit aufzuzeigen. In besonderer Weise profitierte die zionistische Bewegung Berlins von der Grüngard-Villa als halböffentlicher Veranstaltungsort. Anhand von Einladungen weist Feinberg nach, dass zahlreiche jüdische Intellektuelle sowie Künstlerinnen und Künstler, wie Sammy Gronemann, Fischl Schneersohn, David Koigen, Olga und Bruno Eisner im Haus ein- und ausgingen. Mit dem Fokus auf den Wohn- und Lebensort der Familie rückt Feinberg auf subtile Weise eine methodische Herausforderung der Geschichtswissenschaft in den Fokus: Kleine und oftmals auch migrantische politische Bewegungen organisieren sich zumeist im privaten Raum und bei halböffentlichen Veranstaltungen. Für dessen Rekonstruktion erscheint der Zugang zu Privatarchiven sehr häufig als unabdinglich. Die Villa in der Freiherr-vom-Stein-Straße war ein solcher Ort.

Ein weiterer von der Autorin hervorgehobener Aspekt ist die Internationalität der zeitgenössischen zionistischen Bewegung. Feinberg verweist nicht nur auf die internationalen Gäste in der Villa. Ebenso kann die Familie auf Netzwerke zurückgreifen, die durch den bereits vollzogenen Migrationsweg entstanden sind. Noch wichtiger erscheint aber, dass der Wunsch zur Übersiedlung nach Eretz Israel innerhalb der Familie eine Grundüberzeugung ist. Sie manifestiert sich auch durch Reisen ins Mandatsgebiet Palästina, wirtschaftliche Investitionen vor Ort und dem Erleben von Antisemitismus in Deutschland. Damit wirkt das Leben in Berlin aus unterschiedlichen Gründen im gesamten Zeitraum als ein Zwischenstopp. Schlussendlich müssen die Grüngards die Stadt im Frühjahr 1934 unter Zwang verlassen.

Auch auf einer zweiten Ebene bricht Feinberg mit früheren Konventionen der deutschen Geschichtswissenschaft. Ihr Buch ist eine Beschreibung der eigenen Familien- und Herkunftsgeschichte: Faivel und Braina sind ihre Großeltern, Jehuda ihr Onkel und Ayala ihre Mutter. Mit Sicherheit ist die persönliche Nähe zum Forschungsobjekt ein zentraler Grund dafür, dass sie mit literarischen Mitteln eine gewisse Distanz und Verfremdung herbeiführt. Wie schwer Feinberg das Verfassen des Buches fiel, deutet sie in einer dem Buch vorangestellten „Rückblende“ an: „So verstrichen Wochen, Monate. Das Material stapelte sich auf und neben dem Schreibtisch, auf den Regalen, sogar auf dem Teppich. Ich habe kein einziges Wort geschrieben.“ (S. 7) Auf derselben Seite bemerkt sie auch, dass sie „kein wissenschaftliches, kein historisches Buch schreiben wollte“. Nichtsdestotrotz verweisen das umfangreiche Literatur- und Quellenverzeichnis und ihre bereits zuvor veröffentlichten wissenschaftlichen Artikel über ihre Familie auf eine akribische Recherchearbeit, die sich gleichsam im Buch wiederfindet.4

In Die Villa in Berlin beschreibt Feinberg eine Episode der Berliner Stadtgeschichte, die durch die Machtübertragung an die Nationalsozialisten ein gewaltvolles und tragisches Ende fand. Lange Zeit war die Geschichte der zionistischen Bewegung im Deutschland vor 1933 von der notwendigen Aufarbeitung des Nationalsozialismus und des Holocaust überdeckt. Aus heutiger Sicht erscheint es aber immer wichtiger, sich auch mit den kulturpolitischen Ansätzen des Zionismus in der Zeit der Weimarer Republik auseinanderzusetzen. Dies führt zu einem breiteren Verständnis für die Geschichte der zionistischen Bewegung vor dem Holocaust und zeigt einen wichtigen Aspekt der deutsch-jüdischen Verflechtungsgeschichte in den ersten Dekaden des 20. Jahrhunderts – eine umfangreiche Thematik, der sich in den letzten Jahren auch andere Forscherinnen und Forscher angenommen haben.5 Das besondere Verdienst dieses Buches ist es jedoch, dass es die geschichtswissenschaftlichen Erkenntnisse für ein breiteres Lesepublikum aufbereitet. Somit ist sehr zu hoffen, dass die beeindruckende, hervorragend zu lesende Darstellung auch über das fachwissenschaftliche Publikum hinaus wahrgenommen wird und eine große Leserinnen- und Leserschaft findet.

Anmerkungen:
1 Karl Schlögel, Berlin Ostbahnhof Europas. Russen und Deutsche in ihrem Jahrhundert, Berlin 1998; für die jüdische Migrationsbewegung aus dem östlichen Europa vgl. Anne-Christin Saß, Berliner Luftmenschen. Osteuropäisch-jüdische Migranten in der Weimarer Republik, Göttingen 2012.
2 Michael Brenner, Jüdische Sprachen und die neuere deutsch-jüdische Geschichte, in: ders. (Hrsg.), Jüdische Sprachen in deutscher Umwelt. Hebräisch und Jiddisch von der Aufklärung bis ins 20. Jahrhundert, Göttingen 2002, S. 7–10, hier S. 7. Hervorhebung im Original.
3 Vgl. Anat Feinberg, „Wir laden Sie höflich ein“ – The Grüngard Salon and Jewish-Zionist Sociability in Berlin in the 1920s, in: Gertrud Pickhan / Verena Dohrn (Hrsg.), Transit und Transformation. Osteuropäisch-jüdische Migranten in Berlin 1918–1939, Göttingen 2010, S. 234–253, hier S. 236.
4 Vgl. neben Literaturhinweis in Fußnote drei auch Anat Feinberg, „The sky of Eretz Israel, my sky“. Berlin and the Early Yishuv as Reflected in the Letters of Feivel Shraga Grüngard, in: Nathanael Riemer (Hrsg.), Jewish Lifeworlds and Jewish Thought. Festschrift presented to Karl E. Grözinger on the Occasion of his 70th Birthday, Wiesbaden 2012, S. 309–320.
5 Für den deutschsprachigen Raum ist diesbezüglich besonders das Forschungsprojekt „Charlottengrad und Scheunenviertel. Osteuropäisch-jüdische Migranten im Berlin der 1920/30er Jahre“ zu nennen. Hieraus hervorgegangene und für das Thema relevante Publikationen sind u.a.: Tamara Or, Heimat im Exil. Eine hebräische Diasporakultur in Berlin, 1897–1933, Göttingen 2020; Shachar Pinsker, Spaces of Hebrew and Yiddish Modernism – The Urban Cafés of Berlin, in: Gertrud Pickhan / Verena Dohrn (Hrsg.), Transit und Transformation. Osteuropäisch-jüdische Migranten in Berlin 1918–1939, Göttingen 2010, S. 56–76.

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